„Laßt die Bären los!“ Tour 2025
Das Buch
Im Frühjahr las ich John Irvings Erstlingsroman „Laßt die Bären los!“, der 1968 erschienen ist. Irving, eher bekannt durch das verfilmte Werk „Garp und wie er die Welt sah“, studierte 1962 bis 1963 am Institute of European Studies in Wien und verarbeitete seine in Österreich gesammelten Eindrücke und Erlebnisse in dieser originell-skurrilen Geschichte.
Die Handlung wird umwebt von den ganze Generationen exzentrischer Charaktere umfassenden Lebens- und Familiengeschichten der beiden Studenten Siggi Javotnik und Hannes Graff, die sich mit einem alten Motorrad, einer Royal Enfield mit 700 ccm, auf Tour durchs Nachkriegsösterreich begeben.
Anmerkung: Alle Zitate sind dem Buch „Laßt die Bären los!“ von John Irving entnommen.
Die Idee
Natürlich war ich Feuer und Flamme, die ziemlich genau beschriebene Route einmal nachzufahren. Leider mußte zuerst ein klitzekleines, dem Vorhaben durchaus hinderliches Problemchen gelöst werden: die gute alte 2007er Suzuki Bandit wieder fahrbereit zu bekommen… Das war schlußendlich ein zeitraubendes Unterfangen, das bereits letztes Jahr seinen Anfang nahm. Ich war 2023 wenig gefahren, und nach der Auswinterung 2024 waren massive, unkalkulierbare und plötzlich auftretende Leistungsverluste festzustellen, die sicheres Fahren verunmöglicht haben.
Das Problem
Also ab in die Werkstatt damit, das Jahresservice wollte ich ja ohnehin durchführen lassen. Tankreinigung als erster Ansatz: keinerlei Besserung. Nochmal. Einspritzdüsen? Keinerlei Besserung. Nach unbestimmter Zeit, meist zwischen 15 und 30 Minuten Fahrtzeit: Leistungseinbruch, als würde man abrupt vom Gas gehen. Es würde sich schon wieder geben, hieß es. Nun, nach etlichen erfolglosen Rundfahrten, insgesamt rund 300 Kilometern, aber aus Sicherheitsgründen nie weiter als 20 Kilometer von Zuhause entfernt, hatte es sich tatsächlich nicht gegeben. Daher habe ich eine zweite Meinung eingeholt.
Was ich denn tanke, wollte der Mechaniker als Erstes wissen. Es stellte sich heraus, daß es vermutlich an der Umstellung von ROZ 95 auf E10 lag, das schrittweise ab 2023 eingeführt wurde. Also wurde meinem Motor eine Kur verschrieben: teures ROZ 100 E5 und noch teurerer Motorreiniger. Nach weiteren 500 Kilometern stellte sich eine deutliche Verbesserung ein, auch wenn es noch immer zu nicht ganz so dramatischen, aber dennoch vorhandenen Einbrüchen kommt.
Die Tour
Aber genug der Suderei! Ausgangspunkt der „Laßt die Bären los!“-Tour war der Tierpark Schönbrunn. Eigentlich war gutes Motorradwetter angesagt: warm, ohne heiß zu sein, und bedeckt, ohne regnerisch zu sein. Es regnete. Jedenfalls regnete es um 5 Uhr morgens, als ich durch den Regen munter wurde. Eigentlich wollte ich um 6 Uhr aufstehen, um den Gasgriff ab 7 Uhr betätigen zu können. Ich drückte den Wecker weiter und schlief bis 7 Uhr. Es regnete. Allerdings regnete es bedeutend weniger, als es noch vor zwei Stunden geregnet hatte.
Also frühstückten die mir Liebste und ich noch gemeinsam, bevor ich mich eine Stunde später als geplant auf den Rücken von Susi Glubschauge schwang und nach Wien aufbrach.

Schönbrunn
Der Tierpark hatte noch geschlossen, aber auch wenn nicht, hätte ich mir die Zeit für den Oryx, die „bestgerüstetste aller Antilopen“, oder den „berühmten Asiatischen Kragenbären“ nicht nehmen können. Trotzdem stapfte ich, den Pfützen und asiatischen Touristen ausweichend, zum Eingangstor, um der Tour einen gewissen symbolischen Startpunkt zu geben. Möge der Ameisenbär mit mir sein.

Ich war nicht direkt auf der Suche danach, aber mir gefiel der Gedanke, dass just jenes „Cafehaus“ gegenüber einen „gewitzten balkanischen Ober“ haben könnte.

Der leichte Nieselregen, gepaart mit den Sprühfahnen der Autos, machten das Fahrerlebnis tendenziell stark verbesserungswürdig. Ich mag es schon nicht, in Wien Auto zu fahren, und obwohl ich mich inzwischen zwar daran gewöhnt habe, in Wien auch Motorrad zu fahren, ist das bei diesen Fahrbedingungen nochmal so ungut für mich. Bei Nässe haben insbesondere die Straßenbahngeleise eine hohe Punktzahl auf dem Schreckensindex der potentiell gefährlichen Dinge, die es auch tatsächlich sind.

Krummnußbaum
Der erste beschriebene Halt war Krummnußbaum. Krummnußbaum ist verständlicherweise nicht auf Wegweisern ab Wien zu finden, ist es doch mit seinen 1.724 Einwohnern (Stand 1. Jänner 2025) und rund 100 Kilometern Entfernung zu Wien mit seinen 2.005.760 Einwohnern (Stand 1. Jänner 2024) nicht nur relativ gesehen unbedeutend.
So passierte ich die Wegmarken Purkersdorf, Sankt Pölten und Melk an der Donau, bevor ich bei der krummnußbaumschen Kapelle stoppte.

Auf dem Weg dorthin allerdings hätte ich bereits unzählige Male stehen bleiben können, um interessante Gebäude und Szenerien zu fotografieren. Die Strecke führte mich ja bereits durch die Wachau, welche an sich bereits eine Reise wert wäre.
Aber auch so manches Häuschen der kleineren Orte, die in keinem Reiseführer stehen, wirkte äußerst reizvoll. So möchte ich anmerken, daß Schönheit vermutlich tatsächlich im Auge des Betrachters liegt, daß aber das Schöne zuweilen sehr viel näher liegt, als man im Allgemeinen vermutet.

Die Kapelle selbst mag oder mag nicht schön sein – das bleibt dem Betrachter überlassen. Aber – und ich könnte mich abwatschen, daß ich davon kein Foto gemacht habe – der Bogen zur Geschichte Irvings und Krummnußbaum spannte sich bereits, da an der Seitenwand besagter Kapelle ein Schild angebracht war, daß das Pinkeln dort untersagt ist.
Nur einmal sahen wir einen Mann in einen Brunnen pinkeln. […] Das war in einem Ort namens Krummnußbaum.
John Irving in „Laßt die Bären los!“
Blindenmarkt
In Blindenmarkt gibt es direkt gegenüber der Pfarrkirche zur Heiligen Anna den ADEG Berger, der unter anderem wohlschmeckende Wurstsemmeln verkauft. Eine jener wohlschmeckenden Wurstsemmeln verdrückte ich auf der Bank direkt neben dem ADEG Berger, gleich vor dem Backhaus, welches schräg gegenüber der Pfarrkirche zur Heiligen Anna liegt.

Warum ich das so genau erzähle? Was sich im positiven Sinne wie eine Zeitreise anfühlte. Ich bin der Ansicht, daß es im ADEG Berger in Blindenmarkt, gegenüber der Pfarrkirche zur Heiligen Anna, alles gibt, das man zum Leben braucht. Beim BILLA am Ortsende hingegen gibt es alles, das man im Leben zu wollen hat.
War es also ein Zeichen, daß die Glocke der Pfarrkirche zur Heiligen Anna Punkt 12 Uhr Mittag schlug? Nein. Es war Zufall. Und ich hatte einfach nur Hunger.

Ybbs
Siggi und Graff weilten nur kurz in Blindenmarkt, und ich tat es ihnen gleich und überquerte die Ybbs bei Hermannsdorf in Richtung Freidegg. Ob sich John Irving am Wortspiel „Freidegg – fried egg“ erfreute, ist mir nicht bekannt.

Mir ist nur meine Empfindung bekannt: die des verblüfften Staunens. Ich war gerade einmal 140 Kilometer von Zuhause entfernt und hatte bereits etliche Gebäude, Gegenden und Flüsse bzw. Brücken wahrgenommen, die ich sonst wohl nicht einmal beachtet hätte.
Wäre ich ohne dieses Buch jemals nach Blindenmarkt gefahren, um dort eine köstliche Wurstsemmel von ADEG Berger, gegenüber der Pfarrkirche zur Heiligen Anna, zu essen und Fotos davon zu machen und darüber zu berichten? Vermutlich nicht. Und das ist das Schöne daran.

Ulmerfeld
Es ging, der Romanvorlage folgend, weiter der Ybbs entlang. Ich hielt Ausschau nach einer einladenden Wiese, wo sich Siggi und Graff zur Ruhe begaben und eine „besonders große“ Grille anzutreffen war.
Doch statt mich auf einer heute wohl sehr feuchten Wiese Gedanken an „ein ganzes Rudel Bauernmädchen“ hinzugeben, fuhr ich direkt weiter nach Ulmerfeld.

Meine mir Liebste meinte schulterzuckend: „Das ist so am Land.“ Für mich war es etwas Besonderes. Ich parkte vor der Pfarrkirche Ulmerfeld, um ein paar Fotos zu machen. Ein Mann kam auf mich zu, beladen mit einem Sechsertragerl Bier einer lokalen Brauerei in der einen Hand und einem unheimlich verlockend gut aussehenden Laib Brot in der anderen.
Was ich denn hier so mache? Ob er es nur ungefähr oder genau wissen wolle?
Er wollte es genau wissen, und wir unterhielten uns gute zwanzig Minuten lang. Eine sehr nette Konversation – wobei ich leider das angebotene Bier ablehnen mußte.
Wenn ich bei mir zu Hause mal 20 Minuten vor einer Kirche reden muß, dann ist das entweder eine Diskussion mit dem Parksheriff oder mit dem Pfarrer…

Das unten abgebildete Foto fiel mir nach dieser warmherzigen Begegnung schwer. Doch es war nicht wegen des Verfalls ausgewählt – es steht einfach dort, direkt neben der Pfarrkirche und in unmittelbarer Nähe zum Schloß Ulmerfeld. Ein Symbolbild für den Niedergang der Dörfer? „Häuser“, so meinte er, „gibt’s hier genug zu kaufen.“

Kematen an der Ybbs
Trotz gut gemeinter – und sicherlich korrekter – Beschreibung des weiteren Straßenverlaufs nach Hiesbach stellte sich dieser als nicht ganz so einfach zu finden heraus. So umkurvte ich Kematen an der Ybbs auf der falschen Hangseite und schlaufte mich dann irgendwann doch auf die richtige Seite der Bundesstraße B121.

Immerhin weiß ich nun, daß ein Ort namens Biberbach existiert und daß dieser sich nicht auf dem Weg nach Hiesbach befindet – es sei denn, man nimmt Umwege in Kauf.


Hiesbach
Im Hintergrund des oben gezeigten Fotos ist übrigens die Basilika Sonntagberg abgebildet, eines der Wahrzeichen des Mostviertels. Doch zurück nach Hiesbach, wo ich schließlich ankam und mir – analog zum Roman – einen Kaffee gönnte.

Ob dieses Gasthaus jenes beschriebene Gasthaus sein soll? Keine Ahnung. Der Kaffee jedenfalls war köstlich.

Nebenbei bemerkt: Der Gastgarten war einladend, aber ich war – abgesehen von vier offensichtlichen Stammgästen, die wohl bereits mit den Barhockern verwachsen waren – der einzige Gast. An einem Samstagmittag. Schade um dieses Kleinod!
Bitte fahren Sie nach Hiesbach bei Kematen an der Ybbs und nehmen Sie dort Ihre Mahlzeit ein. Essen müssen Sie ohnehin irgendwann irgendwas – warum nicht dort?

St. Leonhard am Walde
Ebenfalls etwas zu bieten hatte – dem Roman zufolge jedenfalls – die „süße“ Gallen: einen Zopf beispielsweise und auch eine Tante, die einen Gasthof hat „wie ein Schloß“.
Zunächst aber war die Herkunft der „Gallen von St. Leonberg“ ausfindig zu machen, und so war der nächste Halt St. Leonhard am Walde.

Zwar sah ich kein Mädchen mit einem hüftlangen Zopf, „dessen Ende ihr auf den flotten, schaukelnden Po klapste“, aber die geschwungenen Straßen dieser hügeligen Gegend ließen zumindest erahnen, wie es vielleicht einmal gewesen sein könnte…

Zwischen St. Leonhard am Walde und Waidhofen an der Ybbs blieb ich nochmals stehen, um den in dieser Gegend stattfindenden Ereignissen des Buches entsprechend zu würdigen.

Waidhofen an der Ybbs
Schließlich haarnadelkurvte ich mich bergabwärts bis nach Waidhofen an der Ybbs und blieb auf der Brücke über die Ybbs stehen. Vor mir lag das Schloß Rothschild, das ich – für mich – als Tantchens Schloß auserkoren hatte.

Warum mich das so begeisterte? Vielleicht wie wenn man sich als Wiener Mission: Impossible – Rogue Nation ansieht, in dem der von Tom Cruise verkörperte Ethan Hunt vom Dach der Staatsoper flüchtet. Oder wie wenn man als Salzkammergutler Spectre sieht, in dem der von Daniel Craig verkörperte James Bond über den Altausseer See flüchtet.
Hier war es, wo Graff im strömenden Regen nächtens über den schlammigen Hof flüchtete – vielleicht sogar die realistischste aller zuvor beschriebenen Fluchten.
Durchaus erfüllt es mch mit Freude, wenn internationale Filmproduktionen österreichische Drehorte wählen. Bei „Laßt die Bären los!“ ist aber noch etwas mehr. Nur was?

Die Skurrilität des Werkes ist erwähnenswert. Es ist verschlungen, verspielt und kunstvoll. Ich möchte hier keine Handlung erklären oder eine Rezension abgeben, ich bin nicht Marcel Reich-Ranicki. Die Handlung wird nicht einfach erzählt, sie wird Seite für Seite aufgeschichtet. Selbst die Höhepunkte der Geschichte haben etwas beiläufiges, als würde man sich im Gasthaus in Hiesbach erzählen, wer letzte Woche gestorben ist und daß die Pelargonien heuer wieder schön blühen. Und obwohl Irving nicht sehr lange in Österreich war, ist etwas zutiefst Österreichisches bemerkbar.
Es passt zwar nicht unbedingt zu diesem Buch, jedoch drängte sich mir der Gedanke auf:
„Der Österreicher will, daß sich alles zum Positiven hin entwickelt, ohne daß sich je etwas ändert.“

Schloß Rothschild
Am Schluß meiner Reise saß ich also im Arkadenhof des Schloß Rothschild bei einem Espresso und ließ die fiktiven Ereignisse Revue passieren.
Ethan Hunt ist nie vom Dach der Wiener Staatsoper gesprungen und James Bond stand nie am Ufer des Altausseer Sees. Waren Siggi Javotnik und Hannes Graff jemals in Waidhofen an der Ybbs? Für mich waren sie das.
Zudem schwöre ich, daß der Schweif dieser einen Kuh dem Zopf der süßen Gallen sehr ähnlich sah. Der schaukelnde Po des Rindviehs hingegen entsprach so gar nicht meinem geistigen Entwurf des jungen Fräuleins…


Die Heimreise
Abschließend möchte ich erwähnen, daß ich von Waidhofen an der Ybbs noch ca. 150 Kilometer nach Hause gefahren bin. Mit dem Motorrad ist das ja erstens körperlich etwas fordernder als mit dem Automobil, und zweitens ist die erforderliche Konzentration um ein Vielfaches höher.
Abgesehen davon, daß es mich zwischen St. Pölten und Baden grob abgeregnet hat, bleibt noch zu sagen, daß ich an diesem Tag tatsächlich keinen einzigen Fall eines den Zweiradfahrer gefährdenden Personenkraftwagenverhaltens bemerkt habe. Danke dafür!
Die gesamte Tour umfaßte rund 450 Kilometer, und mit all den Zwischenstopps habe ich dafür an die 10 Stunden gebraucht. Mein Nacken, mein Rücken und mein Gesäß waren von der Reise nicht so angetan, aber ich habe viele positive Eindrücke sammeln können und freue mich, diese literarische Rundfahrt endlich gemacht haben zu können.
Auch Susi Glubschauge zeigte sich von ihrer agilen Seite und fuhr – bis auf leichte Problemchen zu Beginn und gegen Ende – flott und spritzig wie am ersten Tag unserer gemeinsamen Zeit. Ich denke, ich spendiere ihr noch ein Fläschchen Motorreiniger zum Dank…