Oświęcim 2025
Die Anreise
Über gespenstisch leere Autobahnen in Tschechien und Polen näherte ich mich am Samstagnachmittag Oświęcim, einer Stadt mit rund 35.000 Einwohnern in der Woiwodschaft Kleinpolen. Oświęcim ist jedoch besser bekannt unter dem Namen, den die Deutschen ihr gaben: Auschwitz. Kahle Birkenwälder weckten erste gedankliche Assoziationen; die einsetzende Dämmerung und die über leere Felder kriechenden Nebelschwaden brachten mich bereits in eine nachdenkliche Stimmung.
Auschwitz
Ein Name nur – und dennoch Synonym für den tiefsten Abgrund „menschlichen“ Handelns, für entgrenztes Grauen, für den Punkt, an dem die Zivilisation versagte.
Auschwitz-Birkenau ist UNESCO-Weltkulturerbe. Diese Bezeichnung lehne ich zutiefst ab. Es muß um jeden Preis erhalten bleiben als Mahnung und Ort des Gedenkens; aber dieser Ort ist das Gegenteil von Kultur.
Kultur: Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwicklung
Duden
Wie schon bei meinem letzten Besuch stieg ich im „Old Tree Villa & Restaurant“ ab. Es war bereits nach 16 Uhr, und die Wintersonne schickte ihre letzten fahlen Strahlen durch die sich rasch schließende Nebeldecke. Nach über fünf Stunden Autofahrt, Pausen nicht eingerechnet, verspürte ich den Drang, mich zu bewegen und ging daher die fünf Kilometer bis zum Lagertor von Auschwitz II–Birkenau zu Fuß.
Das Tor des Todes
Das Tor des Todes, das rund 1,1 Millionen Menschen ein- und nicht mehr ausließ, hob sich zunächst kaum vom illuminierten Nebel ab. Ich machte einige Fotos und fragte mich, ob ich ein unkreativer Mensch oder nur ein mittelmäßiger Fotograf sei – oder ob es tatsächlich nur diese eine Perspektive gebe, dieses Tor „richtig“ abzubilden.

Die Judenrampe
Etwa einen Kilometer entfernt liegt die sogenannte „Judenrampe“. Hier wurden die Deportierten entladen und selektiert, bevor das Vernichtungslager später – zur „Effizienzsteigerung“ – einen eigenen Bahnanschluss erhielt.

Zwei Transportwaggons stehen dort, und die Gedanken an das unermessliche Leid, das einst an diesem Ort und in solchen Waggons geschah, ließen mich frösteln. Allzu viel Vorstellungskraft braucht es nicht, wenn man – umhüllt von Dunkelheit und Nebel – allein an einem solchen Ort steht.
Erst 2004 wurde die Rampe erneuert; am 27. Januar 2005, dem 60. Jahrestag der Befreiung des Lagers, wurde die Gedenkstätte eröffnet.

Überrascht war ich über eine Kranzspende der Thyssenkrupp AG – eines Unternehmens, dessen Vorgängerbetriebe im Nationalsozialismus zu den Nutznießern des Systems der „Vernichtung durch Arbeit“ gehörten. Historische Schuld lässt sich nicht tilgen, doch solche Zeichen von Anteilnahme und Verantwortungsbewusstsein geben Anlass zur Hoffnung. Die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung – heute größter Anteilseigner von Thyssenkrupp – engagiert sich seit Jahren in der Erinnerungskultur.

Die Schautafeln
Zurück auf der Straße stieß ich auf eine weitere Installation: beleuchtete Schautafeln, die unter anderem die berühmten Zeichnungen des Häftlings „MM“ in die Nacht strahlen ließen. Eine gute Idee, wie ich fand – weniger gut war jedoch der Standort. Wer sie betrachten möchte, muss Pfützen und durchnässtes Erdreich durchqueren. Mir persönlich macht das wenig aus, doch zumindest eine Schotterfläche hätte man dem Gedenken durchaus spendieren können.

Vor dem Besuch
Auch am Sonntagmorgen tauchte der Nebel die Landschaft in Tristesse – dem Anlass würdig. Heute würde ich eine „Tour for Individuals“ machen können, anders als 2022, als ich an einer geführten Tour teilnahm, die hochinteressant war, mir jedoch zu wenig Zeit ließ, das Gezeigte wirklich auf mich wirken zu lassen. Gerade an einem solchen Ort ist es notwendig, innezuhalten.

Laut Ticket sollte ich um 13:00 Uhr Einlass erhalten, doch bereits um 10 Uhr begann ich meinen eigenen Rundgang. Ich umrundete das Stammlager, jene ehemalige polnische Kaserne, die zum ersten Konzentrationslager im Interessengebiet KL Auschwitz wurde.
Eine Gedenktafel weist auf eine ehemalige Kiesgrube hin, in der Zwangsarbeit geleistet und Morde verübt wurden. Entlang des Lagerzauns führte mich mein Weg weiter; einzelne Wachtürme ragten über die Betonbarrieren – Relikte einer Vergangenheit, die nie hätte existieren dürfen.

Schließlich gelangte ich zum eigentlichen Eingang der Gedenkstätte. Ich war allerdings zwei Stunden zu früh und musste mich daher gedulden, denn die Eintrittszeiten sind streng geregelt.

Also erkundete ich weiter die Umgebung und kam zu einem schwarzen Stein, der das dahinterliegende Gelände als Massengrab auswies – für rund 700 Häftlinge, die noch in der Endphase des Lagers ermordet wurden, obwohl der Krieg längst verloren war.

Ein paar Meter weiter befindet sich der Zasole-Park, in dem die „Allee der Bäume der Erinnerung in Oświęcim“ angelegt wurde: unter anderem eine Linde aus Dachau, ein Ginkgo-Baum aus Hiroshima und eine Pinie aus Sarajevo.
Und dort findet sich auch eine Gedenktafel für einen außergewöhnlichen Mann, dessen Taten den Lauf der Geschichte vielleicht hätten verändern können: Witold Pilecki.

Witold Pilecki
Sein Leben könnte als Blaupause für Heldenmut mit tragischem Ende dienen. Pilecki war Offizier der Zweiten Polnischen Republik und nach dem Ersten Weltkrieg am Polnisch-Sowjetischen Krieg (1919–1921) beteiligt. 1939 verteidigte er Polen gegen die deutsche Wehrmacht und engagierte sich danach maßgeblich im Aufbau der polnischen Widerstandsbewegung.
1940 ließ er sich freiwillig verhaften, um Informationen über die Zustände im KL Auschwitz zu sammeln und dort eine Untergrundorganisation aufzubauen.
Seine aus dem Lager geschmuggelten Berichte erreichten 1941 die britische Regierung. Zwar bombardierten alliierte Flugzeuge 1944 Industrieanlagen im nahen Monowitz, doch das Lager selbst wurde nie angegriffen – obwohl klar war, dass sich dort etwas Entsetzliches ereignete; die Dimensionen jedoch wurden teils unterschätzt, teils übertrieben dargestellt.
1943 gelang Pilecki die Flucht aus Auschwitz. Genug Heldenmut? Nein. Er beteiligte sich am Warschauer Aufstand und kämpfte zwei Wochen gegen die deutsche Wehrmacht. Nach dessen Niederschlagung wurde er ins Kriegsgefangenenlager Lamsdorf verbracht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er ins inzwischen sowjetisch kontrollierte Polen zurück, wo er 1948 wegen Spionage zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Das kommunistische Regime verschwieg seine Taten; erst nach 1989 wurde er rehabilitiert – posthum, aber immerhin.
Der Besuch
Mit dem Lesen dieser historischen Fakten verging die Zeit langsam, aber doch. Schließlich fand ich mich um 13:00 Uhr in einer langen Schlange wieder. Leider erfuhr ich erst kurz vor dem Einlass, dass mir maximal zweieinhalb Stunden zur Verfügung stehen würden. Das enttäuschte mich sehr, denn damit war ausgeschlossen, sowohl das Stammlager als auch das Vernichtungslager zu besuchen. Die Sicherheitskontrolle dauerte bereits gut 20 Minuten und es passierte genau das, was ich vermeiden wollte: Zeitdruck zu haben an einem Ort, an dem man sich Zeit nehmen sollte.

Durch das ehemalige Lagertor mit dem berüchtigten Schriftzug „Arbeit macht frei“ betrat ich zum zweiten Mal das Stammlager Auschwitz I. Zuerst ging ich zu dem Ort, an dem dem ehemaligen Lagerkommandanten Rudolf Höss irdische Gerichtsbarkeit zuteil wurde: dem Galgen, an dem er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehängt wurde.




Gleich daneben befindet sich ein ehemaliger Munitionsbunker, der mit einem Krematorium ausgestattet wurde. Diese Räume dienten vorübergehend auch als Gaskammer, bis die Vernichtungsanlagen in Birkenau in Betrieb genommen wurden. Nach dem Krieg wurde der Rückbau rückgängig gemacht und die Räume wurden wieder in den historisch-schändlichen Zustand zurückversetzt.



Gedankenverloren schlenderte ich durch die Lagerstraßen, vorbei an den berüchtigten Blocks: Block 21, der Chirurgischen Abteilung; Block 10, in dem medizinische Experimente durchgeführt wurden; Block 11, das Lagergefängnis; und dazwischen die „Schwarze Wand“, an der Erschießungen stattfanden.




Das Wissen
Vor und nach meinem ersten Besuch beschäftigte ich mich eingehend mit Auschwitz und recherchierte für den früheren Artikel umfangreich. Auch danach ließ mich dieses Thema nicht los. Ich habe zahlreiche Bücher von Überlebenden gelesen; zudem Holokaust von Guido Knopp sowohl als Buch gelesen als auch als TV-Dokumentation gesehen.

Ich verspürte die ursprüngliche Erschütterung nicht mehr so stark – ich war bereits erschüttert.
Ich fühlte die tiefe Betroffenheit nicht mehr so eindringlich – ich war bereits betroffen.
Geblieben ist mein Drang, darüber zu berichten und zu warnen. Denn was einmal geschehen konnte, kann – mit anderen Mitteln – auch wieder geschehen.
Und ich will und werde kein aktiver oder passiver Teil davon sein.
Ich habe davon gewusst!
Die Schoah begann nicht mit Auschwitz.
Eva Szepesi
Sie begann mit Worten und sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft.
In einer Baracke hängen Fotos von Häftlingen. Dieses Prozedere gab es nur zu Beginn des Konzentrationslagers vom Frühjahr 1941 bis Mitte 1943. Ich schaute mir die Gesichter an, bereits gezeichnet von den Strapazen vor der Ankunft. Ich las das zugehörige Datum der Registrierung und dann das Datum des Todes. Tage machmal nur, zumeist Wochen und selten länger als Monate.

Die Exponate
Über die Exponate habe ich bereits früher ausführlich berichtet. Dieses Mal konnte ich mir etwas mehr Zeit dafür nehmen. Der Gedanke, dass an jedem dieser Schuhe, an jedem Topf, an jeder Prothese, an jeder Brille und an jedem Koffer ein Leben hing, beschäftigte mich erneut. Und all das heute noch Sichtbare, das Präsentierte, ist nur ein Bruchteil dessen, was von den Ermordeten zurückblieb und zuvor im sogenannten „Kanada“-Lager sortiert wurde.
Ich wiederhole mich: Es sind nicht die rund 110.000 Paar Schuhe, die Symbol sind für das Ausmaß der Vernichtung. Es ist die Anzahl an Schuhen, die fehlen, um auf die Gesamtzahl von 1.100.000 Menschen zu kommen.

Industrieller Massenmord. Industrielle Verwertung ermordeter Menschen. Den Häftlingen und Ermordeten wurde das Haar geschoren; es wurde verpackt und der Textilindustrie zugeführt. In einem Raum sind sowohl große Mengen menschlichen Haares als auch ein Stoffballen zu sehen – gefertigt aus menschlichem Haar. Fotografieren ist dort zu Recht untersagt.

Erschütternd ist auch der Bereich, der den Kindern gewidmet ist. Wobei „erschütternd“ ein unzureichendes Wort ist, falls es überhaupt ein Wort gibt für das Gefühl, das sich einstellt, wenn man ein Bild sieht von einem Jungen, der seine noch jüngeren Geschwister Hand in Hand in die Gaskammer führt.
Ich verstehe ihre Frage nicht: Natürlich ist es
Jeanne Roger (Frankreich), als sie gefragt wurde, warum sie
eine Pflicht das Leben eines kleinen
unschuldigen Kindes zu retten.
ein jüdisches Kind bei sich zu Hause versteckte

Widerstand
Zurück am Eingangstor bewunderte ich erneut das verkehrt eingesetzte „b“. Ein kleines Symbol des Widerstandes – und doch können Symbole wirkmächtig sein. Leider überwiegen jene der absoluten Macht: Wachtürme, Stacheldraht, Warnschilder und Orte, an denen gedemütigte, gefolterte und ermordete Häftlinge zur Abschreckung ausgestellt wurden, um den Willen der übrigen zu brechen.

Es gibt 928 dokumentierte Fluchtversuche aus Auschwitz und je nach Quelle zwischen 144 bis 196 erfolgreiche Fluchten – bei rund 1,3 Millionen Inhaftierter ein extrem geringer Wert.

Mathematik
In anderen Beiträgen habe ich bereits versucht, mich der schwer vorstellbaren Menge an Opfern mathematisch anzunähern und durch Vergleiche ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie viel „viel“ ist.
Rund 1,3 Millionen Menschen wurden nach Auschwitz deportiert; rund 1,1 Millionen wurden dort ermordet. Etwa 200.000 überlebten die unmittelbare Lagerzeit, doch außer den 7.000, die bei der Befreiung noch vor Ort waren, wurden die meisten auf Todesmärsche geschickt. Rechnet man dies ein, könnte man grob von einer Überlebensquote von etwa 10 % ausgehen.
Das klingt zunächst hoch – für das bekannteste Vernichtungslager des Dritten Reiches. Aber:
10 % meiner Hauptschulklasse würden für mich als Überlebenden bedeuten, dass ich von 20 Mitschülern nur einen wiedersehen könnte.
10 % meiner Heimatstadt würden bedeuten, dass von 50.000 Menschen 5.000 überleben würden. 5.000, eine Zahl, die groß klingt – bis man sich klarmacht, dass 45.000 Menschen: tot wären.
Diese Veranschaulichung durch Vergleiche lässt sich fortsetzen. Beim Stollen „Bergkristall“ habe ich errechnet, dass man das gesamte Tunnelsystem Mann an Mann mit den Leichen jener auslegen könnte, die es errichten mussten – und dennoch genug übrig hätte, um einen absurd hohen Leichenberg zu bauen.
Auf Auschwitz bezogen drängte sich mir folgende Vorstellung auf: Legte man alle zwei Meter eine ermordete Person auf den Boden, könnte man die Distanz zwischen Berlin und Moskau – rund 2.000 Kilometer – vollständig mit den Opfern von Auschwitz auslegen.
Ich überlasse es nun dem Leser, eine Rechnung anzustellen mit
- rund 6 Millionen Juden
- rund 3,3 Millionen Sowjetischer Kriegsgefangener
- rund 1,8 Millionen Polen
- zwischen 250.000 bis 500.000 Roma
- rund 300.000 Serben
- rund 300.000 Menschen mit Behinderungen
- politisch Andersdenkende
- „Berufsverbrecher“
- „Asoziale“
- Zeugen Jehovas
- sexuell anders Orientierte
- und so weiter
welche in deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern getötet wurden…

Am Ende des Rundgangs
Um nicht der Letzte zu sein, der gegangen wird, plante ich eine Viertelstunde für einen abschließenden Besuch im Buchladen ein. Dieser hatte jedoch bereits geschlossen – oder heute vielleicht nie geöffnet; ich weiß es nicht. Bereits vom Zeitdruck konsterniert, nahm ich es als weiteres kleines Missgeschick hin. Unbedeutend im Vergleich.

Ich verließ Auschwitz diesmal ohne die großen Gefühle, die ich beim ersten Besuch hatte. Dennoch war diese Zeit keineswegs schlecht investiert – nur ineffizient, wenn man bedenkt, dass ich für einen zweistündigen Besuch eine rund sechs Stunden lange Anreise hinter mir und eine ebenso lange Rückfahrt vor mir hatte.

Einmal noch wird mich Auschwitz wohl wiedersehen. Birkenau gilt es noch in Ruhe zu erkunden. Und auch wenn ich dieses Kapitel nie vollständig abschließen werde können, so werde ich doch umblättern – und das Erinnern an einem anderen Ort fortsetzen.
