Brüssel 2025 – Tag 1

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4 Uhr morgens, Wien. Der Wecker klingelt. Moment. Dieser Satz ist 2025 wahrscheinlich in den meisten Fällen inkorrekt. Heutzutage hebt man keine Hörer mehr ab, legt selbigen, da inexistent, auch nicht mehr auf und eine Wählscheibe ist ein charmantes Detail in alten Filmen. Also, auf ein Neues:

4 Uhr morgens, Wien. Beim Erreichen der eingestellten Weckzeit löst der im Betriebssystem des Smartphones integrierte Alarm-Manager ein Ereignis aus. Dieses weckt die CPU aus dem Energiesparmodus, aktiviert Audio- und Vibrationsmodule und startet die Wecker-App mit der definierten Alarmaktion. Das System spielt den Alarmton (nervige Melodie) ab, schaltet das Display ein und wartet auf Benutzereingaben.

Mein Smartphone hat keine Sprachsteuerung, daher alarmte der Ton auch nach einem resignierenden „Oida!“ weiter, bis ich ihn durch ein beherztes Streichen nach rechts verstummen lassen konnte. Keine Zeit für Luxus à la Snooze, sondern raus aus dem Bett, rein in die Kleidung und ab zur Straßenbahnhaltestelle, um die erste Tram, den zweiten Zug und das Flugzeug, das meine Liebste und mich nach Brüssel bringen sollte, zu erreichen. (Ja, ich hab eh auch Zähne geputzt!)

Kurz nach 9 Uhr waren wir auch schon ohne Zwischenfälle in Brüssel, der Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Belgien. Ungeachtet dieser Regierungsform als konstitutionelle Monarchie ist Brüssel (bekanntlich) auch Hauptsitz des größten demokratischen Zusammenschlusses souveräner Staaten weltweit: der Europäischen Union. Dem nicht genug, ist Brüssel (eher auch bekanntlich) der Sitz der NATO und (wohl tendenziell eher unbekanntlich) der EUROCONTROL, also der Europäischen Organisation zur Sicherung der Luftfahrt. So wird der Reisende am Flughafen auch gleich vom „Manneken Pis“ in NATO-Kleidung empfangen, der auf die Vorübergehenden zu piseln scheint. Gut, es ist ein wenig unglücklich inszeniert, wenn man ein wenig darüber nachdenkt, aber ich bin voller sarkastischer Zuversicht, daß sich hochdotierte, gut ausgebildete Werbefachleute das vorher sehr gut überlegt haben…

Willkommen in Brüssel - Manneken Pis
Willkommen in Brüssel – Manneken Pis

Der erste Eindruck zählt, heißt es. Nun, Brüssel hat es uns nicht leicht gemacht. Das erste, das wir sahen, war eine Menschentraube vor dem Ausgang. Es stellte sich nach rätselhafter Warterei heraus, daß es sich um eine Zollkontrolle gehandelt haben dürfte, die vorbei war, kurz bevor wir zum Kontrollpunkt kamen. Das war etwas nervig, aber ich bin grundsätzlich sehr dafür, daß gut kontrolliert wird und ich lasse mich auch selbst gerne gut kontrollieren. Dazu ist anzumerken, daß dieser Flug nach Brüssel, nachdem das nach Malta, Rom, Riga, Niederlande und Helsinki nicht der Fall war, heuer der erste Flug war, bei dem ich meinen Personalausweis zücken mußte, um mich vor dem Einsteigen auszuweisen.

Nach dieser Kontrolle fand sich ein Großteil derselben Menschen vor den Ticketautomaten der Bahngesellschaft wieder. Auch das bedeutete wieder warten, aber schließlich saßen wir im Zug nach Brüssel-Central. Von dort aus waren es nur mehr 15 Minuten Fußweg bis zum Hotel. Da dies natürlich kein Brüssel-Bashing werden soll, darf ich voller Begeisterung von der Schlumpfpassage berichten, die den meisten Reisenden und am allermeisten uns ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert hat. Gargamels ausgenommen. Extra erwähnenswert sind vermutlich der belgische Pommes-Schlumpf oder der Bier-Schlumpf. Es ist insgesamt ein niedliches Machwerk und beliebtes Fotomotiv. Schlumpftastisch!

Vielleicht sind wir etwas verwöhnt durch die viel zu oft schlechtgeredete Tatsache, daß Wien bereits vier Mal zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt wurde, oder durch den noch nicht lange zurückliegenden Aufenthalt in der sehr sauberen finnischen Hauptstadt, aber Brüssel kam uns dreckig und etwas heruntergekommen vor. Es ist natürlich eine gewisse Erwartungshaltung damit verbunden, ob man eine Stadt eher positiv oder negativ in Erinnerung behält. Die Erwartungshaltung von Brüssel war, für mich: Ich befinde mich in der Hauptstadt vom Königreich Belgien und, sozusagen, auch in der Hauptstadt der Europäischen Union. Daher hatte ich Brüssel als herausgeputztes, modernes, zukunftsorientiertes Schmuckstück erwartet – zumindest das Zentrum, das Herzstück des Herzstücks sozusagen.

Brüssel - ein unglücklicher Investor?
Brüssel – ein unglücklicher Investor?

Obdachlosigkeit ist für die Betroffenen keine Schande, daher erwähne ich betont wertfrei die für uns als Touristen gut sichtbaren Menschen, die in Hauseinfahrten, Kirchenportalen und vor Geschäften hausten. Laut Recherche für dieses Geschreibsel gab es 2024 offiziell rund 10.000 Menschen in der Brüssel‑Hauptstadtregion, die ohne festen Wohnsitz waren. Das ist eine Seite, die gesellschaftspolitisch von Belang ist. Die andere Seite, die auch sicherheitspolitisch relevant ist, war die Präsenz der sogenannten Bettelmafia. Soweit ich informiert bin, ist jeder Mensch, der gezwungen wird, auf der Straße zu hocken, eine arme Seele. Aber diese arme Seele hat nichts von der Spende mitleidiger Passanten, denn der Erlös ist abzuliefern. Meine Wut steigert sich, wenn ich die Methoden aufzähle, mit denen Mitleid erweckt wird: Einsatz von Tieren, Einsatz von Säuglingen und Kindern, Einsatz von gewaltsam zugefügten Verkrüppelungen. Es ist vom moralischen Standpunkt aus sehr schwer für mich, denn wie gesagt tut mir der Mensch, der dort mit seinen mehrfach gebrochenen Beinen steht und bettelt, unendlich leid. Gebe ich ihm jedoch Geld, so gebe ich es nicht ihm, sondern dem System, das Menschen die Beine bricht, um Menschen wie mich dazu zu bringen, ihnen Geld zu geben. Abends kommt der Bus und holt sie ab. Wir erreichten unser Hotel.

Brüssel - Notre-Dame du Sablon
Brüssel – Notre-Dame du Sablon

Erster Programmpunkt war zugleich die bekannteste Sehenswürdigkeit Brüssels: das Atomium. Um das Atomium zu erreichen, war eine Fahrt mit der U-Bahn zweckdienlich. Nun trafen wieder zwei Erwartungshaltungen aufeinander.
Erwartungshaltung #1: Brüssel ist eine moderne Stadt.
Erwartungshaltung #2: das Atomium ist eine Skulptur.
Ad 1: Es kann durchaus als modern bezeichnet werden, wenn man U-Bahn-Tickets mit RFID oder sonstigem modernen Voodoo bekommt. Eigentlich ist es auch unser Fehler gewesen, nicht alle Piktogramme der Schleuse vor dem Betreten zu entziffern, aber wir haben es glorreich geschafft, uns in einer Behindertenschleuse einzusperren. [Dramatische Pause] Für eine lange Minute, bis wir durch Trial and Error herausgefunden haben, wie man wieder herauskommt. Die U-Bahn-Garnituren waren sichtlich in die Jahre gekommen, was uns aufgrund der bisherigen Eindrücke nicht dazu beitragen konnte, positive Erfahrungen zu sammeln. Rückblickend ist es jedoch so, daß auch in Wien zuweilen Garnituren verkehren, die man als Filmkulisse für „Zurück in die Vergangenheit“ benutzen könnte.
Ad 2: Jein. Vielleicht oute ich mich als allgemeinwissend inkompetent, wenn ich meine bisherige Vorstellung vom Atomium mit „eine 10 bis 20 Meter hohe Skulptur“ zusammenfasse. Vielleicht startet der geneigte Leser gerade eine Googlesuche oder fragt dieses ChatGPT oder kramt einen Katalog der Weltausstellung 1958 hervor, um korrigierend einzugreifen und zu schreien: „Ha! Das Atomium ist aber 102 Meter hoch, du Schlumpf!“

Brüssel - Atomium
Brüssel – Atomium

Es ist ein wirklich beeindruckendes Konstrukt, das der Ingenieur André Waterkeyn entworfen hat und von den Architekten André und Jean Polak umgesetzt wurde. Es handelt sich um eine 165-milliardenfache Vergrößerung der kristallinen Elementarzelle des Eisens und soll als Symbol dienen für das Atomzeitalter sowie die friedliche Nutzung der Kernenergie. Seit einer umfassenden Renovierung 2004 bis 2006 erstrahlt es in neuem Glanz, sprichwörtlich.

Von wegen Skulptur: Das Atomium ist zugänglich und gut besucht. In den Kugeln, die über Rolltreppen in den Röhren miteinander verbunden sind, sind Ausstellungsräume sowie Lichtinstallationen und Lasershows untergebracht. Die Ausstellung selbst fand ich ein wenig altmodisch aufbereitet, insbesondere im Vergleich zu den grandiosen audiovisuellen Lichtshows.

In der obersten Kugel befindet sich eine Aussichtsmöglichkeit sowie ein Restaurant auf zwei Ebenen. Um diese Kugel zu erreichen, muß man sich für die Benutzung des Aufzuges anstellen und somit zuerst wieder ganz nach unten. Es ergab sich eine Wartezeit von mehr als 30 Minuten und wenn man das Restaurant nicht in Anspruch nehmen will, dann gibt es dort oben auch nicht wirklich viel zu sehen.
Der Ausblick, den man während der Weltausstellung 1958 gehabt haben muß, dürfte beeindruckend gewesen sein.
Der Ausblick, den man heute hat, ist deutlich weniger beeindruckend. Die Innenstadt von Brüssel ist weit genug weg, um nicht überblickt werden zu können, und die nähere Umgebung ist, fernblicktechnisch gesehen, eher mau.

Es gibt jedoch ein paar Fenster, die mit Folie beklebt sind. Blickt man durch diese folierten Fenster, wirkt die Welt wie einem postapokalyptischen Katstrophenfilm entsprungen.

Von Außen ermöglicht das Konstrukt immer wieder neue spannende Blickwinkel und der rege Flugverkehr ermöglicht manch nette Bildkomposition.

Danach begaben wir uns in das Europaviertel Leopold, das die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union beheimatet. Mal sehen, was mit unserem Steuergeld so aufgebaut wurde… Nach einem Besuch im Informationszentrum, wo wir sehr nett und zuvorkommend behandelt und mit EU-Armbändern sowie EU-Fahnen ausgestattet wurden, besuchten wir das Parlamentarium. Es handelt sich dabei um eine kostenlose interaktive Ausstellung zur Geschichte der EU, ausgehend von den Pariser Verträgen, über die Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bis hin zur Gegenwart mit Ausblick auf die Zukunft.

Wir fuhren mit der U-Bahn, diesmal ohne uns irgendwo einzuschließen, zurück zum Hotel und machten uns für das Abendessen fertig. Dann begann das Drama. Ich wollte noch ein paar Fotos zur blauen Stunde machen und auf der Suche nach geeigneten Motiven setzte, zuerst kaum merklich aber stetig an Intensität gewinnend, meine halbjährliche Migräneattacke ein. Meine mir Liebste und ich einigten uns auf eine Pizzeria und ich bestellte irgendwas mit Huhn und sie eine Pizza ohne Fleischauflage. Ich verzeihe ihr.
Jedenfalls saß ich nur mehr da, den Kopf hängen lassend und wahlweise die Schläfen massierend oder das Gesicht in den Händen vergrabend. Fürchterlich. Ich konnte kaum essen, daher tauschen wir die Mahlzeiten, ließen uns die Pizza einpacken und während sich die mir Liebste über das eingetauschte Huhn hermachte, wackelte ich unsicher durch die umliegenden belgischen Gassen um den Kopfschmerz zu lindern. Keine Chance.

Brüssel - das Huhn
Brüssel – das Huhn

Ich wollte am Weg zurück ins Hotel noch schnell eine Flasche Wasser kaufen, da das Leitungswasser im Hotel geschmacklich nicht ganz so mundete. Im Abgang grauslich, könnte man sagen. Es war die nervigste Supermarktwarteschlange, in der ich jemals anstehen durfte. Meiner mir Liebsten wurde der Zutritt verwehrt, da man kein Essen (die eingepackte Pizza) mit in den Markt nehmen durfte. Also schlumpfte ich durch die Gänge des chinesischen Supermarkts auf der Suche nach Wasser. Schließlich fand ich auch Wasser sowie den Weg zur Kassa. Es waren exakt drei Menschen vor mir an dieser Kassa. Es herrschte Stillstand. Es gab eine längliche Diskussion auf, vermutlich, Mandarin, daß alle Artikel aus der Tüte, welche vollgepackt auf dem Förderband lag, aus vorgenannter Tüte entnommen und auf das ebenso vorgenannte Förderband gelegt werden müssen. Es war erstaunlich, wie viele Waren aus dieser Tüte geholt, nein, gezaubert wurden! Es muß eine dieser magischen Tüten gewesen sein, die keinen Boden haben. Jedenfalls vergingen geschlagene 15 Minuten bis diese eine Person korrekt abkassiert wurde, und ich war mir sicher, daß ich gleich umkippen würde. Es gibt jedoch eine goldene Regel für mich in Supermärkten sowie Staus und Warteschlangen aller Art: wechsle nie die Kassa, die Fahrspur oder die Schlange. In den allermeisten Fällen wird es nämlich dadurch schlimmer und in den Fällen, in denen es nicht schlimmer geworden wäre, wäre es schlimmer geworden, hätte man die die Kassa, die Fahrspur oder die Schlange gewechsel. Zum Abendessen gab es dann für mich schließlich ein Aspirin mit chinesischem Wasser und glücklicherweise baldigem Schlaf und so endete der Donnerstag.