Lettland 2025 – Tag 4 Ķemeri & Umgebung

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Heute begann jener Teil der Lettlandreise, der mir, nach dem Riga Marathon selbst, am Wichtigsten war: Natur. Aber um zu Natur zu gelangen, muß man erstmal aus der Stadt raus. Um von Riga aus Ķemeri zu erreichen, kann man wahlweise mit dem Bus oder der Bahn fahren. Da ich die Bahn als zuverlässiger und pünktlicher einschätzte, wackelte ich nach dem Frühstück mit Rucksack, Wasser und einer Banane als Verpflegung ausgestattet in Richtung Bahnhof. Eine Stunde Fahrt und rund 20 Haltestellen später hüpfte ich in Ķemeri aus dem Zug.

Nachdem ich mich orientiert hatte, marschierte ich los in Richtung „Großes Ķemeri Moor“. Auf dem Weg dorthin passierte ich einen Waldfriedhof, eine in Lettland offenbar durchaus gängige Bestattungsstätte aber eben ganz anders als im deutschsprachigen Raum, wo alles in Reih und Glied zu ruhen hat. (Was sich jedoch glücklicherweise zu ändern beginnt.)

Waldfriedhof Ķemeru
Waldfriedhof Ķemeru

Rund 4 Kilometer vom Bahnhof entfernt beginnt das eigentliche Hochmoor. Es wurde ein hölzerner Pfad angelegt, auf dem man einen Rundwanderweg durch diese einzigartige Landschaft unternehmen kann. Obwohl eben ist doch eine gewisse Trittsicherheit nicht von Nachteil, da der Weg größtenteil ohne Geländer angelegt und zudem nicht allzu breit ist.

Vom Aussichtsturm, der ungefähr nach der Häfte des Weges aus dem Moor aufragt, kann man einen wunderbaren Blick über die Landschaft werfen und die Gedanken schweifen lassen.

Obwohl erste Teilflächen bereits 1957 unter Schutz gestellt wurden, existiert dieser Naturpark in der heutigen Form erst seit 1997. Die Gegend ist bei Vogelkundlern sehr beliebt, und man hört das Gezwitscher der gefiederten Lebewesen fast unentwegt. Zu sehen bekam ich Piepmätze leider eher selten – und vor die Kamera schon gar nicht.

Zurück in Ķemeri schlenderte ich durch den sehr ländlich wirkenden Ortsteil der 2.000 Einwohner zählenden, ehemals selbstverwalteten Stadt, die nach ihrem Niedergang seit 1959 Teil von Jūrmala ist.

Danach erkundete ich ein wenig den sehr schön angelegten Park und bestaunte das ehemalige Sanatorium Ķemeri State Hotel, derzeit geschlossen. Dieses über 100 Zimmer umfassende Gebäude wurde 1936 fertiggestellt und erweiterte die seit 1825 bestehende Nutzung als Erholungsort. Die Schwefelquellen, eine davon liegt im Park selbst, dienten bereits spätestens 1796 als Heilquellen. Ob die im Park sichtbaren Ruinen tatsächlich Überreste des urprünglichen, russischen Ķemeri Sanatoriums sind, kann ich an dieser Stelle leider nicht mit Sicherheit beantworten, diversen Onlinequellen zufolge scheint dies jedoch der Fall zu sein.

Inzwischen hatte ich rund 15 Kilometer in den Beinen aber wenn ich schon mal wo bin, dann gibt es keine körperliche Müdigkeit, die mich davon abhalten könnte noch weiter zu gehen. Daher nahm ich auch den nur rund 1 Kilometer messenden „Schwarzerlen-Sumpf“ mit in meine Reiseerfahrungen.

Ein paar Kilometer weiter beginnt dann der Naturpfad am Sloka-See, welcher mich nach dem Moor selbst sehr beeindruckt hat. Ich stieg in diesen ebenfalls als Rundwanderweg angelegten Pfad bei einem Waldweg ein, der sich dank der vorangegangenen Regentage stellenweise als eine große, breite und unüberwindliche Pfütze präsentierte. So war ich froh, daß jemand offenbar Holzbretter ausgelegt hatte, um eine Überquerung trockenen Fußes zu ermöglichen. Dumm nur, daß die Holzbretter nicht lagen sondern schwammen und die von mir als mich selbst aufgebrachte Masse größer war als der vorhandene Auftrieb und ich somit am dritten Tag in Folge nasse Füße bekam.

Der Pfad führt durch die ufernahen Wälder dieses Braunwassersees. Idyllisch einerseits und doch tückisch andererseits bleibt mir der hölzerne Steg in Erinnerung: breiter als im Hochmoor zwar, aber an manchen Stellen mit fehlenden oder gebrochenen Planken, an einer Stelle in gefährlicher Schieflage und ringsum nur schlammiger Boden oder Feuchtgebiete unbestimmter Tiefe…

Ich hörte stundenlang nur das Zwitschern der Vögel und meine eigenen Schritte, herrlich! Weg vom Lärm der Stadt, den Menschen in der Stadt, keine Termine und keine Verpflichtungen außer auf dem Weg zu bleiben. Innere Ruhe kehrte wieder ein, etwas, das ich ich die letzte Zeit über sehr vermisst habe.

Der Anblick des Sees, dessen Uferzone mir wir in Pastellfarben gemalt vorkam, entschädigte sowohl für nasse Füße als auch für fehlende Planken. Von einem schwimmenden Aussichtsturm aus kann man die Wasservögel beobachten, von denen ich auch hier viel hörte aber wenig sah. Ein einsamer Schwan schwamm vor meine Linse und zwei ältere Damen versuchten, meiner lebhaften Fantasie zufolge, mich mit Erdnüssen gefügig zu machen. Lieber nicht…

Rote Pfützen werden üblicherweise eher von Algen oder Sedimenten verursacht und sind definitiv nicht das Blut unschuldiger Wanderer, das von geifernden Waldgeistern nach grausamen Opferritualen verschüttet wurde. Diese Gedankengänge zeigten, daß es an der Zeit war, wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Ich entschied mich, nicht nach Ķemeri zurückzugehen, sondern einen inzwischen näher gelegenen Bahnhof aufzusuchen.

Ķemeri - Naturpfad am Sloka-See
Ķemeri – Naturpfad am Sloka-See

Der Bahnhof von Kūdra ist noch verlassender als der von Ķemeri und sieht aus, als würde jeden Moment Clint Eastwood mit zusammengekniffenen Augen um die Ecke biegen und mich zum Duell auffordern wollen. Ich war zudem sehr froh, daß der Zug nach Riga hier auch tatsächlich Halt machte; der in die andere Richtung fuhr nämlich einfach durch… trotz gegenteiliger Ausschilderung.

Ķemeri - Bahnstation Kūdra
Ķemeri – Bahnstation Kūdra

So kam ich nach rund 26 Kilometer Wanderung gegen 20 Uhr zu einem wohlverdienten Mahl.

Riga 2025 - Abendessen
Riga 2025 – Abendessen

Danach, so dachte ich mir, wollte ich den letzten Abend in Riga mit dem Genuß eines lettischen Bieres auf einer idyllischen Parkbank beenden. In Gedanken verloren, beschallt von einem Straßenmusikanten, der bekannte Popballaden mit slawischem Akzent und Akustikgitarre neues Leben einhauchte, wurde ich jäh von zwei Polizeibeamten aus meinen Tagträumereien gerissen. In der Öffentlichkeit Alkohol zu trinken sei verboten und ich solle mein Bier nehmen, in die Tasche stecken und gehen. Ich tat wie mir geheißen: und es war schon viele, viele Jahre her als ich Bier heimlich in einer dunklen Ecke trinken mußte…