40. Vienna City Marathon 23.04.2023
Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll, wenn es um diesen Lauf geht.
„Begin at the beginning,“ the King said, very gravely, „and go on till you come to the end: then stop.“
Lewis Carroll, Alice in Wonderland
Den Anfang zu dieser Geschichte könnte man wohl mit dem 28.09.2019 defnieren, alles davor wiederum könnte man als Prequel vermarkten. Das jedenfalls war der Tag, an dem ich mich selbst, unfreiwillig zwar aber dennoch, kopfüber in die Berliner Erde gerammt habe um mir eine so genannte Tossy 3 zuzuziehen: eine Schultereckgelenksprengung wobei Typ 3 so viel bedeutet wie: kompletter Riss des Bandapparates. Mehr dazu an anderer Stelle.

Nun war es, wie es war: meine erste Sportverletzung nach meiner Knieangelegenheit in jungen Jahren. Das konnte mich nicht im Geringsten erschüttern. Ich wurde operiert und bekam ein TightRope verpasst, also ein Glasfaserkabel, das zwischen zwei Metall-Buttons gespannt wird, um so die Sprunggelenkgabel zu fixieren. „Hält besser als das Original“, hat mir der Chirurg versprochen.


Eines der ersten Dinge, die ich mir angeschafft habe, war eine Walze für mein Rennrad. Ich absolvierte ab Oktober 2019 meine Physiotherapie, schonte den Arm bis in den November hinein komplett und begann Anfang November auf der Walze zu radeln. Bald schon hatte ich wieder ein Trainingsroutine. Im Dezember konnte ich schon auf erste leichte Läufe erhöhen, es lief alles gut.

Am 24. Jänner 2020 versuchte ich den Burgenland Extrem (Wanderung) zu finishen, was aufgrund extremer Rückenschmerzen mißlang. Aber ich trainierte weiter, unter Schmerzen. Bis ich nicht mehr konnte, es war März 2020 als die Pein zu groß und zu dauerhaft wurde. Ich hatte das Gefühl, als hätte sich mein gesamter Bewegungsapparat gegen mich verschworen. Rückenschmerzen, Hüftschmerzen, Knieschmerzen, Knöchelschmerzen und schon wieder diese Achillessehnen…

Ich reduzierte einige Wochen die Umfänge, versuchte erneut durchzustarten.
17. Mai 2020: virtueller Marathon in 4:56.
18. Juli 2020: letzter langer Lauf mit 27 Kilometer in 2:51.
Spaziergänge und Waderungen statt Laufen bis in den November 2020 hinein, ein Aufbäumen zum Jahreswechsel auf 2021, dazwischen und danach sehr viel: nichts. Nein, nicht nichts: Bier. Es gab Unmengen an Bier und Pringles und Pizza und Burger.

Im Oktober 2021 wurde dann klar, woher meine Schmerzen kommen. Eigentlich dachte ich mir, daß es eine Schiefstellung als bisher unbekannte Folge meins Unfalls in Berlin sein könnte, doch weit gefehlt. Nach dem Röntgen im Rahmen einer orthopädischen Untersuchung wurde festgestellt, daß mein rechtes Bein um sagenhafte 2,5 cm kürzer ist als mein linkes Bein. Oder umgekehrt, so genau lässt sich das wohl nicht sagen. Ich bevorzuge die Version des kürzeren Beines, denn wäre der linke Haxen zu lang, dann wäre ich folglich ja noch kleiner. Keine Option. Offenbar hat mein jahrelanges Lauftraining diesen Umstand bisher muskulär ausgeglichen bis zu dem Moment, an dem das nicht mehr ging, wodurch die Schmerzen in den Sehnen und Gelenken entstanden, was schlußendlich mitverantwortlich für den Unfall war, der wiederum ursächlich für die Sportpause war, was wiederum zu Muskelabbau geführt hat, was wiederum das Problem vergrößert hat. Uff.
In Zahlen lässt das so ausdrücken: ich habe mich in kurzer Zeit von meiner sportlichen Top-Form (66kg bei 12% Köperfettanteil) auf meine unsportliche Un-Form (90kg bei 35% Köperfettanteil) hochgefressen und gesoffen. Kann ich und muß ich genau so sagen.
Es ist ja nicht so, als hätte ich gar nichts getan. Ich habe meinen Keller ausgebaut in vielen, vielen Stunden Arbeit (mit viel Bier nebenbei) (außer den Fliesen, das kann ich nicht). Ich habe Hochbeete im Garten weggerissten und neue angelegt, habe 50 Laufmeter Thujen-Hecke ausgegraben, aus den Stämmen ein Luxus-Igelhotel gebaut und eine neue Hecke mit heimischen Sträuchern gepflanzt.

Nachdem ich nun wusste, was meine Schmerzen verursacht hat und ich Schuheinlagen zum Höhenausgleich verschrieben bekommen hatte, hätte man meinen können, daß sich meine sportlichen Ambitionen wieder einstellen. Doch dafür benötigte es noch weitere Faktoren. Bis dahin: weiter wie bisher.
Schockmoment #1 20.09.2022: Im Rahmen einer amtsärztlichen Untersuchung, die ich alle 5 Jahre für den Erhalt des LWK-Führerscheins machen muß, wurde Blutdruck extrem erhöhter Blutdruck festgestellt. Wir reden hier von 160/100 und wir reden von einem Ruhepuls von 80+.
Schockmoment #2 27.10.2022: Bei der Befundbesprechung im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung hat sich ein katastrophales Blutbild offenbart. Cholesterin durch die Decke, Harnsäure massiv überhöht usw.
Schockmoment #3: Das Foto von der Hochzeit, auf der wir eingeladen waren…
An dieser Stelle, weil ich ja im Anfang begonnen habe und erst aufhöre, wenn ich am Ende angelangt bin, ein kleiner Einschub. Keiner der beteiligten Ärzte ist auch nur irgendwie auf die Idee gekommen, mich zu meinen Ess- oder Trinkgewohnheit, geschweige denn über ausreichende Bewegung, zu befragen. Die medizinische Lösung für den Blutdruck waren zwei Pulver täglich, die Lösung für das Cholestrerin ebenso. Keiner kam auf die Idee das offensichtliche Übergewicht zu thematisieren. Nun, ich habe die Pulver für den Blutdruck aufgrund der alarmierenden Zahlen angenommen aber verweigert, etwas gegen das Cholesterin zu nehmen. Meine Frage an mich selbst war einfach: Was kann ich tun?
Was ich tun konnte war genauso simpel wie auch schwer: Ernährungsumstellung (nicht zu verwechseln mit einer Diät). Viel Gemüse, wenig Fleich, mehr Fisch, wenig Ei, viel Wasser, wenig Bier, viel Tee, wenig Kaffee, mehr Hülsenfrüchte, weniger Chips. Ich habe das zur Selbstmotivation anfangs zelebriert mit immer neuen Rezepten, arrangiert und präsentiert um den nicht vorhandenen Followern zu zeigen: So geht das!

Was ich noch tun konnte war schon schwieriger: wieder mit Sport beginnen.
Erster Schritt: sich ein Ziel setzten. Der 40. Vienna City Marathon sollte es werden.
Zweiter Schritt: den ersten Schritt in einen geregelten Trainingsalltag machen.
Am 28.12.2022 habe ich dann wieder mit so etwas ähnlichem wie Training begonnen. Ich hatte mit vorgenommen, sämtliche denkmalgeschütze Objekte in Wiener Neustadt anzulaufen. So hatte ich eine klar definierte Aufgabe, lernte neue Orte kennen und konnte Altbekanntes neu entdecken. Das Längste – mit großem Abstand – das ich vor diesem Marathon laufend zurückgelegt habe, war ein Halbmarathon zwei Wochen zuvor in 2:16:53.
Die zweitlängste Distanz waren 10 Kilometer in 1:11:03 am 26.03.2023.
Dazwischen waren, in ihrer Häufigkeit jedoch abnehmend je weiter Silvester zurücklag, etliche 30-50 minütige langsame Dauerläufe und zwei Wochen vor dem Marathon habe ich dann irgendwie gar nichts mehr gemacht.
Mit Jahresbeginn habe ich zudem angefangen Buch zu führen. Jeden Tag habe ich mich nach dem Aufstehen auf meine Körperfettwage gestellt, jeden Tag habe ich den Blutdruck gemessen und die Ergebnisse jeden Tag in eine Tabelle übertragen, Auswertung mittels Diagramm inklusive. Am 01.01.2023 stand ich bei 85,0 kg Körpergewicht bei 31,2 Prozent Körperfettanteil, am 23.04.2023, dem Tag des Marathons, immerhin „nur“ noch bei 81,7 kg Körpergewicht bei 30,0 Prozent Körperfettanteil. Also immer noch stark übergewichtig bzw. fettleibig.

Und so kam es, daß ich um 9:21 mit 15 Kilogramm Übergewicht, völlig untertrainiert, die Startlinie auf der Wiener Reichsbrücke überquerte und in den Vienna City Marathon startete.

Die Taktik war klar: langsam beginnen und durchhalten. Meine Durchschnittspace auf 5 Kilometer war anfangs bei 6:20 min/km und verringerte sich bis Kilometer 25 konstant auf 6:45 min/km. Bis dahin war es auch noch übersichtlich anstrengend. Dann kam der Einbruch. Fortan bewegte ich mich schlurfend bis gehend mit 8:20 bis 10:20 min/km vorwärts – und das war wichtig: immer nur vorwärts, nicht aufgeben.
Aufgeben kam mir ohnehin nicht in den Sinn. Erstens natürlich um mir selbst etwas zu beweisen und zweitens um der mir Liebsten zu beweisen, daß ich wieder auf dem richtigen Weg bin. Sie beteuerte, daß ihr nicht langweilig geworden ist, immerhin mußte sie geschlagene fünf Stunden, neunundzwanzig Minuten und zweiundvierzig Sekunden warten, bis ich meinen Körper über die Ziellinie bugsiert hatte. Es war hart, es war verdammt hart, aber ich wollte verdammt sein, wenn ich nicht härter gewesen wäre.

Ich möchte behaupten, daß ich die 42 Kilometer nur durch Willenskraft, Sturheit und Erfahrung zurücklegen konnte. Ist aber auch dieses Mal nach dem Marathon vor dem Marathon? Ich denke ja. Es ist mir klar, daß es körperlich für mich so nicht weitergehen kann. Es ist mir klar, daß ich mich wieder ein wenig schinden muß, daß die Zeit der Faulheit vorbei sein muß. Im Moment habe ich noch keine Veranstaltung auserkoren, zu der es gehen soll. Aber ich habe Ziele definiert. Meine Ziele sind mein Körpergewicht in den Griff zu bekommen, es muß ja nicht unbedingt ein Sixpack sein, und mich dauerhaft gesünder und ausgewogener zu ernähren um Blutdruck und Blutwerte zu stabilisieren, und wieder – diesmal wirklich regelmäßig – zu trainieren.
Und das ist das Ende der Geschichte. Vorerst.

